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Kurzbericht 2011

Vom 28. bis 30. April 2011 fanden die 14. Schlangenbader Gespräche statt, ein deutsch-russischer Gesprächskreis zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen, der jedes Frühjahr etwa sechzig Fach-leute aus beiden Ländern zusammenführt. In diesem Jahr stand er unter dem Leitthema "Jenseits der guten Absichten: Russland, der Westen und die Herausforderung der Nachhaltigkeit". Der Titel zeigt an, dass die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen nach dem Tiefpunkt im August 2008 immer noch eine der eher seltenen Schönwetterperioden erfahren. Wie in der Aufschwung-phase des vergangenen Jahres widmeten sich daher die Gespräche auch in diesem Jahr der Frage, wie diese Periode zur gemeinsamen Problemlösung genutzt und wie sie stabilisiert werden kann, um eine neuerliche krisenhafte Zuspitzung der Beziehungen zu verhindern.

Das betrifft zum einen die europäische Sicherheitsordnung. Hier bekräftigen zwar beide Seiten mit Nachdruck ihre guten Absichten, keine neue Konflikte heraufbeschwören und das Erbe des Kalten Kriegs endgültig überwinden zu wollen; geschehen ist seither jedoch wenig. Um den Europäischen Sicherheitsvertrag, dessen Entwurf Präsident Medwedjew im Dezember 2009 vorgelegt hatte, ist es still geworden. Das gilt auch für alternative Ansätze. So ist der Vorschlag des ehemaligen Ver-teidigungsministers Volker Rühe, Russland an die NATO heranzuführen und mittelfristig in das Bündnis aufzunehmen, in Deutschland kaum auf Resonanz gestoßen, weder positiv noch negativ. In Schlangenbad fand dazu eine breite Diskussion statt. Von deutscher Seite wurde kritisch ein-gewandt, ein solcher Schritt würde die NATO als Verteidigungsbündnis in eine kollektive Sicher-heitsorganisation transformieren und vor allem nicht das Problem lösen, dass einige Mitglieder der Allianz Schutz vor Russland und nicht mit Russland suchen. Von russischer Seite wiederum wurde eingewandt, dass Moskaus Beitritt an den praktisch zu lösenden Problemen wenig bis nichts ändere, dieser Wunsch daher nicht auf der russischen Tagesordnung stehe.

Gleichermaßen auf Zustimmung wie auf Vorbehalte stieß das Plädoyer des ehemaligen russischen Außenministers Igor Iwanow für einen pragmatischen Ansatz, der problemorientierte "Regime" neuen Organisationen und institutionellen Lösungen vorzog. Das prominenteste gemeinsame Projekt jedoch, die Raketenabwehr, traf auf verbreitete Skepsis. Seine Verwirklichung stehe, so die überwiegende Auffassung, sprichwörtlich in den Sternen. Darüber hinaus werde der neue amerikanische "Phased Adaptive Approach" bei seiner weiteren Umsetzung in wenigen Jahren er-neut Probleme für das strategische Gleichgewicht aufwerfen; und es müsse bei einem gemeinsam konzipierten Abwehrsystem die Wirkung auf Chinas Nukleardispositiv beachtet werden. Die Raketenabwehr zum Lackmustest der Verständigungsbereitschaft zu erheben, sei daher mit be-trächtlichen Risiken behaftet.

Einigkeit bestand, dass die Chance der aktuell entspannten Beziehungen nicht ungenutzt ver-streichen dürfe. Hier sei fraglos eine gemeinsame Vision hilfreich, etwa in Gestalt der russischen NATO-Perspektive. Dies könne auch den Widerspruch beseitigen, dass in den bilateralen Be-ziehungen mit Russland kaum Probleme bestehen, doch durch das NATO-Prisma betrachtet eine weit größere Sensibilität zu spüren sei.

Dies wird bei der Ukraine besonders sichtbar, dem zweiten großen Diskussionsthema der dies-jährigen Schlangenbader Gespräche. Sie ist ein Schlüsselland sowohl für die europäische Stabilität und die europäische Sicherheitsordnung als auch für die Modernisierung der politischen und wirtschaftlichen Ordnung im Raum der ehemaligen Sowjetunion. Aktuell, so die weit überwiegende Einschätzung, charakterisiere die Ukraine eine eigentümliche Widersprüchlichkeit: Auf der einen Seite wolle das Land auch unter Präsident Janukowitsch seine Emanzipation von Russland fort-führen und strebe daher keine Mitgliedschaft in Organisationen an, die von Russland dominiert werden. In der Innenpolitik wiederum, etwa beim Umgang mit der politischen Opposition, nähere sich der Kurs immer mehr Russland an.

Aus den genannten Gründen verweigere sich daher die Ukraine einer Mitgliedschaft in der Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan, obwohl daraus unmittelbare wirtschaftliche Vorteile erwachsen würden. Stattdessen strebe sie weiterhin die Bildung einer Freihandelszone mit der EU an, und es wurde aufmerksam registriert, dass die gegenwärtige Regierung energische Reformschritte unternommen habe, um diese zu ermöglichen. Sehr unterschiedlich wurde in der Diskussion die Frage beurteilt, ob und wie beides miteinander vereinbar sei. Doch ungeachtet der besonders von Seiten der EU betonten Integrationskonkurrenz überwog allseits die positive Würdigung der "multivektoriellen" außenpolitischen Orientierung des Landes: Sie stelle keinen Widerspruch dar, sondern erlaube einen produktiven Interessenausgleich zwischen Ost und West und diene zugleich der Einheit des Landes.

Als konkrete Anregung wurde in Anlehnung an das "Weimarer Dreieck", das von Deutschland, Frankreich und Polen gebildet wird, die Idee ventiliert, ein Viereck aus Deutschland, Polen, Russ-land und der Ukraine zu schaffen. Dessen Aufgabe könnte die gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte sein sowie die Anbahnung gemeinsamer Wirtschaftsvorhaben.

Nicht nur im Interesse der Aktualität widmeten sich die Schlangenbader Gespräche schließlich den jüngsten grundstürzenden Ereignisse in der sogenannten MENA-Region (Middle East and North Africa). Sie werden sowohl mit Hoffnungen als auch mit Befürchtungen begleitet. Das betrifft weitere revolutionäre Ansteckungen in der Region und darüber hinaus, auch wenn von ver-schiedener Seite immer wieder vor voreiligen Verallgemeinerungen gewarnt wurde. In diesem Zu-sammenhang machten einzelne Diskussionsteilnehmer darauf aufmerksam, dass der Zusammenbruch der autoritären Ordnungen im Nahen Osten auch ein Fanal für Russland darstelle. Dessen politische und wirtschaftliche Ordnung weise die gleichen Schwächesymptome auf wie die Rentenökonomien dieser Region, und in jüngster Zeit würden sich die Krisensymptome auf beunruhigende Weise verdichten.

Ferner betrifft es die Risiken einer (islamistischen) Radikalisierung der bislang dezidiert säkularen Bewegungen sowie die Risiken für die regionale Stabilität. Klar sei jedenfalls, dass das Thema der Demokratisierung und damit auch der Demokratieförderung keineswegs mit George W. Bush von der internationalen politischen Agenda verschwunden ist. Und klar sei ebenso - dies zeige insbesondere der NATO-Militäreinsatz in Libyen -, dass die "Responsibility to Protect" und "Regime Change" ziemlich eng zusammenhängen. Dabei demonstriere das in beiden Ländern ebenso un-erwartete wie umstrittene Stimmverhalten Russlands und Deutschlands im Sicherheitsrat der Ver-einten Nationen zugleich, welche ungewöhnlichen Kombinationen dabei entstehen können. Allerdings konnte auch in Schlangenbad nicht jedes Abstimmungsrätsel gelöst werden.