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Protokoll 2005



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Bei den diesjährigen Schlangenbader Gesprächen standen die Widersprüche im Mittelpunkt, die aktuell das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland prägen – Widersprüche, die ihren Ausdruck auch im Titel der Gespräche fanden. Trotz der singulär positiven Aussagen von Bundeskanzler Gerhard Schröder über die deutsch-russischen Beziehungen im allgemeinen und über Präsident Putin im besonderen wächst auch in Deutschland die öffentliche Kritik an Russland. Im Zentrum der Kritik stehen dabei neben der innenpolitischen Entwicklung Tschetschenien, die Jukos-Affäre und das Verhältnis Russlands zu seinen Nachbarstaaten. Allerdings gibt es generell im Westen Konflikte zwischen der realistischen, von eigenen Interessen geleiteten Praxis im Regierungshandeln und einer idealistischen Rhetorik, die auf das Fehlen gemeinsamer demokratischer Werte verweist. Beides muss jedoch kein Gegensatz sein. Der „demokratische Frieden“ etwa, den George W. Bush in seiner zweiten Amtszeit zumindest rhetorisch in den Mittelpunkt der US-Außenpolitik gerückt hat, geht von einem engen Zusammenhang von (realistischen) Interessen und (idealistischen) Werten aus.
 
Auffallend ist zudem, dass die wachsende westliche Kritik ihren Niederschlag auch in der russischen Führung gefunden hat, so etwa in der diesjährigen Rede Putins vor der Föderationsversammlung im April, in der er sich auffallend intensiv mit dem Thema der Demokratie in Russland auseinander setzte und sich demonstrativ zu einer demokratischen Ordnung und einer liberalen Wirtschaftspolitik bekannte. Seine politische Praxis jedoch entspricht dem kaum, was natürlich Fragen nach der Glaubwürdigkeit oder auch nach seiner Durchsetzungsfähigkeit aufwirft.
 
Diesen Widersprüchlichkeiten auf westlicher wie auf russischer Seite ist bei den diesjährigen Schlangenbader Gesprächen in wichtigen Politikfeldern nachgegangen worden. Sie knüpften an die herausragenden Konflikte und Debatten des letzten Jahres an, die zwar die Notwendigkeit einer fortgesetzten Partnerschaft mit Russland deutlich gemacht, diese jedoch auch unübersehbar in eine Krise gestürzt haben. Das betraf insbesondere den künftigen Umgang mit jenen Ländern - und namentlich der Ukraine -, die sich heute zwischen der erweiterten Europäischen Union und Russland befinden. Für die Europäische Union stellt sich hier die Frage, welche Nachbarschaftspolitik sie künftig betreiben will, nachdem ihre offizielle „Neue“ Nachbarschaft offenkundig keine Resonanz findet. Russland sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob es weitere Domino-Steine geben wird, die seinem Einflussbereich entfallen, und ob Anatolij Tschubajs‘ „Liberales Imperium“ eine mögliche Alternative darstellen könnte. Die Antwort auf beide Fragen kann bei aller Rivalität nur gemeinsam gefunden werden.
 
Zwei weitere außenpolitische Themen befassten sich mit jenen sicherheitspolitischen Herausforderungen, bei denen sich kooperative und konfrontative Elemente auf ganz eigene Weise mischen – zwischen Russland und dem Westen, wie auch innerhalb des Westens. Dabei geht es zum einen um die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, wobei mit wechselnden Akzenten und Intensitäten der Iran und Nord-Korea ganz oben auf der Liste der nuklearen Besorgnisse stehen. Zum anderen geht es um die gemeinsame Terrorbekämpfung, nachdem auch Russland mit der Serie terroristischer Anschläge im vergangenen September sein „9/11“ erlitten hat, dies nach eigener Wahrnehmung jedoch von westlicher Seite nicht ausreichend gewürdigt findet. Und mit der Jukos-Affäre wurden schließlich die Konsequenzen erörtert, die das rigorose und rechtsstaatlich fragwürdige Vorgehen des Staates für die Attraktivität Russlands als Investitionsstandort und als Wirtschaftspartner sowie für seine Zuverlässigkeit als Energielieferant signalisiert.
 
Den Rahmen der Schlangenbader Gespräche bildeten in diesem Jahr erneut zwei dinner speeches, wobei den Auftakt der ehemalige Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping, bildete. Sein Ausgangspunkt war die Frage, ob die deutsch-russischen Beziehungen von einer gemeinsamen Sicht auf die globalen Probleme gekennzeichnet sind. Diese seien für Deutschland und Russland objektiv ähnlich, wobei er insbesondere auf die globalen demographischen Entwicklungen einging sowie auf die steigende Nachfrage nach Energie, Wasserressourcen und den Klimawandel und nicht zuletzt auf die Notwendigkeit des interkulturellen und interreligiösen Dialogs, denn religiöser Fanatismus, Armut und „ethnic hate“ seien eine wesentliche Brutstätte für den Terrorismus. Hinsichtlich der Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen müsse man gleichfalls fragen, ob es Interesse an einer gemeinsamen Politik gegenüber dem Iran und Nordkorea gebe.
 
In Bezug auf Russland stellte Scharping fest, dass aus westlicher Sicht potenziell ein Konflikt bestehe zwischen dem Interesse an einer stabilen Entwicklung und der Rechtsstaatlichkeit sowie der Sicherung von Freiheitsrechten. Da Russland keine historische Erfahrung mit der Demokratie habe, seien hier die Erwartungen des Westens übertrieben. Scharping forderte daher, zwischen der Richtung und der Geschwindigkeit der Entwicklung in Russland zu unterscheiden. Das gelte auch für den Krieg in Tschetschenien. Zwar habe die Russische Föderation das Recht zur Verteidigung ihrer territorialen Integrität. Jedoch sei die Art und Weise, wie sie dieses durchsetze, nicht akzeptabel, da fortwährend gegen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit verstoßen werde. Scharping betonte, dass man ihn für die erste Aussage im Westen kritisiert habe, während man sich in Russland gegen die zweite Aussage gewandt habe.
 
Ein weiteres Thema, das auch in der nachfolgenden Diskussion eine wesentliche Rolle spielte, war die Zukunft der EU und ihre widersprüchliche Rolle im östlichen Europa. Scharping zeigte sich skeptisch gegenüber künftigen Erweiterungen und plädierte statt dessen für eine Vertiefung und Konsolidierung der EU. Das gelte auch gegenüber der Ukraine, eine Frage, die in der Diskussion Sergej Kortunow, Peter W. Schulze, Heinz Timmermann und Vera Lengsfeld aufwarfen. Dabei diagnostizierte Lengsfeld auf Seiten der EU Angst und protektionistische Rückfälle und gab zu bedenken, dass es vielleicht besser sei, sich auf eine Freihandelszone zu beschränken und keinen europäischen Superstaat anzustreben. Unter diesen Bedingungen wäre auch eine Erweiterung nicht zu fürchten und selbst die Aufnahme Russlands möglich, wenn sich das Land auf die gemeinsamen Prinzipien verpflichte. In diesem Zusammenhang machte Scharping geltend, dass auch in der europäischen Sozialdemokratie unterschiedliche Haltungen existierten. Zum einen werde die Auffassung vertreten, dass für die erfolgreiche Demokratisierung der osteuropäischen Staaten eine Beitrittsperspektive nötig sei. Er könne eine solche Notwendigkeit jedoch nicht erkennen. Solle die EU ihrer internationalen Verantwortung gerecht werden, sei eine Vertiefung notwendig. Dies beziehe sich auch auf die Beitrittsperspektive der Türkei. Auch verfolge die NATO einen sehr viel ausgefeilteren Ansatz als die EU, um die Situation zwischen Mitgliedschaft und Nicht-Mitgliedschaft zu überbrücken.
 
Eine Vertiefung der EU sei aber auch notwendig, als die sich abzeichnende Ablehnung des Verfassungsvertrages in mehreren Mitgliedsländern – ein Thema, das Wjatscheslaw Nikonow ansprach – eine wachsende Entfremdung der politischen Führung von den Bevölkerungen signalisiere. Scharping forderte mehr Demokratisierung, ein stärkeres Parlament und eine wirksamere Vertretung der Bürger. Man müsse jedoch berücksichtigen, dass kein Staat willens sei, Souveränität in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik und Verteidigung abzugeben, auch wenn Scharping darin nicht per se eine Renationalisierung von Politikfeldern, wie von Hannes Adomeit aufgeworfen, feststellen könne.
 
In der zweiten dinner speech am Abend des ersten Konferenztages begrüßte der Hessische Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Jochen Riebel, die Teilnehmer der Schlangenbader Gespräche. Er verwies insbesondere auf die weit zurückreichenden und intensiven Beziehungen zwischen Hessen und Russland. Das betreffe natürlich die Auswanderung, als etwa unter Katharina II viele Deutsche an der Wolga siedelten, die vor allem aus Hessen, der Kurpfalz und Baden kamen. Aber auch in der russischen Literatur spiele Hessen eine wichtige Rolle. Erinnert sei nur an Dostojewskijs Der Spieler mit den Hauptorten Wiesbaden und Paris. In Darmstadt befinde sich eine berühmte Russische Kapelle, und in Wiesbaden und Bad Nauheim gebe es russisch-orthodoxe Kirchen, die Zeichen der gemeinsamen Geschichte seien. Zudem hätten russische Herrscher immer wieder Frauen aus dem Geschlecht Hessen-Darmstadt geheiratet. Nicht minder ausgeprägt seine bis in die jüngste Zeit die wissenschaftlichen Verbindungen zwischen hessischen und russischen Einrichtungen. Auch heute hätten alle hessischen Universitäten Partneruniversitäten in Russland, die Philipps-Universität Marburg beispielsweise mit der Lomonossow-Universität in Moskau. Das Land Hessen selbst unterhalte seit 1991 eine Partnerschaft mit der Oblast Jaroslawl, deren Hauptziel die Schaffung direkter Verbindungen zwischen den Menschen sei.
 
Zu den aktuellen deutsch-russischen Beziehungen führte Riebel aus, dass sich im Unterschied zum Kalten Krieg, als auf beiden Seiten Klischees und Vorurteile vorherrschten, die Situation heute signifikant geändert habe. Die Einladung von Bundeskanzler Schröder zur Teilnahme an den Feierlichkeiten zum Endes des Zweiten Weltkrieges in Moskau sei hier ein historisch bedeutsames Zeichen. Deutschland erinnere sich der positiven Rolle Russlands und Gorbatschows bei der Wiedervereinigung. Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog habe gesagt, dass es keine Alternative zur deutsch-russischen Partnerschaft gebe. Weltweit könne heute kein Problem ohne die Beteiligung Russlands gelöst werden. Aber auch in Europa seien Sicherheit und Wohlstand ohne Russland nicht denkbar, eine engere Zusammenarbeit daher anzustreben.
 
In einer kurzen Replik stellte auch der Generalkonsul der Russischen Föderation in Bonn, Georgij Gerodes, eine grundsätzliche Veränderung in den deutsch-russischen Beziehungen fest und zeigte sich erfreut über den positiven Stand, den sie erreicht hätten. Dabei wies er auf die Rolle der aus Russland stammenden Bevölkerung in Deutschland hin, die inzwischen etwa 2,5 Millionen Menschen umfasse. Man müsse sich allerdings fragen, ob sie ausgewandert wären, wenn die Lage in Russland besser gewesen wäre.
 
 
 
Panel 1:
„Liberales Imperium“ oder „Neue Nachbarschaft“:
„Zwischeneuropa“ als Zankapfel?

 
Mit der Osterweiterung der Europäischen Union hat sich das „Zwischeneuropa“ zwischen der EU und Russland auf die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion reduziert. Zumal im Angesicht der jüngsten demokratischen Veränderungen in der GUS – und vor allem in der Ukraine – finden sich Inkonsistenzen und Widersprüche auf beiden Seiten. Offizielle Äußerungen in Russland – so etwa Putin in seiner Rede vor der Föderationsversammlung – bringen zwar ein Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht im GUS-Raum zum Ausdruck, lassen zugleich aber keinen Zweifel an der „zivilisierenden“ Rolle Russlands und daran, dass eine „Synchronisation“ des Reformtempos mit den anderen GUS-Ländern geboten sei. Während dies bezogen auf Belarus ein nobles Ziel sein könnte, wirft ein solches Verständnis im Hinblick auf die Ukraine beträchtliche Fragen auf. Doch auch die Europäische Union zeigt gegenüber der Ukraine ein widersprüchliches Gesicht. Einerseits wurde ein EU-Ukraine Aktionsplan erarbeitet, der die Übernahme des acquis communautaire vorsieht und das besondere Interesse der EU unterstreicht, andererseits gibt es absehbar keine Chancen für den von der Ukraine erwünschten Beitritt zur EU, der den besonderen Beziehungen ein materielles Fundament verleihen würde.
 
Dem wurde im ersten Panel nachgegangen, das von zwei umstrittenen Leitthemen geprägt war: der Attraktivität Russlands für seine Nachbarstaaten – als Vorbild und als Partner – sowie der unausgereiften Strategien Russlands und der EU hinsichtlich des Umgangs mit diesem „Zwischeneuropa“. Bereits in den fünf einführenden Kommentaren wurden hier sehr unterschiedliche Bewertungen sichtbar.
 
Ulrich Brandenburg hob in seiner Einführung die potenzielle Attraktivität Russlands für seine Nachbarstaaten hervor, die allerdings aus verschiedenen Gründen heute nicht ausreichend zur Geltung komme. Wenn etwa Putin in seiner Rede am 25. April 2005 den Zerfall der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichne, so werde diese Bewertung in den Nachbarstaaten zweifelsohne nicht geteilt. Russland müsse den Versuch unternehmen, historischen Ballast abzuwerfen, z.B. durch den Abschluss der Grenzverträge mit Lettland und Estland, die auf Eis liegen, obwohl keine inhaltlichen Differenzen bestehen. Im Hinblick auf Georgien sei dagegen der Plan einer Präsidentenerklärung als Schritt zur Einigung über die Schließung der beiden verbliebenen russischen Stützpunkte positiv zu werten. Beide unerledigten Aufgaben hätten Russland bislang mehr geschadet als genützt, so Brandenburg. Dabei könne das Land seine Magnetwirkung in konstruktiver Weise ausüben. Russland sei ökonomisch attraktiv, in vielen Bereichen weiter reformiert als seine Nachbarstaaten, und es biete Möglichkeiten für mannigfaltige kulturelle Kontakte. Auch die russischen Minderheiten in den Nachbarstaaten könnten eine positive Rolle spielen, wenn sie nicht politisch instrumentalisiert werden. Die Zielvorstellung einer „freien Gesellschaft freier Bürger“ könnte auf die Umgebung ausstrahlen. In diesem Sinne setze auch die belarussische Opposition auf russische Hilfe.
 
Das Nachbarschaftskonzept der erweiterten EU mit seinen Aktionsplänen habe zwar durchaus Substanz, entspreche aber nicht den Erwartungen der jeweiligen Partner. Zynisch gewendet könnte man sagen, dass die EU ein Problem weniger hätte, wenn Wiktor Janukowitsch die Präsidentschaftswahl in der Ukraine gewonnen hätte. Denn die hohen Erwartungen, die nun an die EU gerichtet werden, müssten unweigerlich zu Enttäuschungen führen.
 
Wie kann man die historisch gewachsene Integration in der ehemaligen Sowjetunion mit einer Öffnung zum Westen verbinden? Nach Brandenburg liegt der Schlüssel in der Annäherung der EU und Russlands, die erlaube, dies zum Gesprächsgegenstand zu machen. Auch sollten die EU und Russland zusammen wirken, um die Regionalkonflikte auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion beizulegen. Möglicherweise habe Russland ein kurzfristiges Interesse an der Virulenz einiger Konflikte, aber langfristig bestehe ein gemeinsames Interesse an der Vermeidung „schwarzer Löcher“. Auch in diesem Sinne bleibe der Auftrag aktuell, das „gemeinsame europäische Haus“ zu bauen – ein Thema, das im letzten Panel erneut aufgegriffen wurde.
 
Wjatscheslaw Nikonows Ausgangspunkt waren die Interessen Russlands gegenüber seinen – keineswegs neuen – Nachbarn. Russland sei an der Stabilität der Grenzen interessiert, an freundlich gesinnten Regierungen, an Freihandel, Marktzugang und Wirtschaftskooperation, an der Reisefreiheit für russische Staatsbürger sowie an der Lage der russischen Minderheiten in den jeweiligen Ländern. Hier sei die Situation heute alles andere als befriedigend, was nicht der russischen Seite angelastet werden könne. Russland und der GUS-Raum seien in wirtschaftlicher Hinsicht ein gemeinsamer Organismus, der auch nach dem Zerfall der Sowjetunion in Teilen bestehen blieb. Hier werde ein Ausgreifen der EU zu weiteren Problemen führen, zumal sich nach deren Erweiterung auch die russischen Wirtschaftsbeziehungen mit den mitteleuropäischen Staaten verschlechtert hätten.
 
Im Hinblick auf die Förderung der Demokratie hielt Nikonow fest, dass es keine Differenzen in der Bewertung von Belarus und Moldowa gebe. Auch werde die Ukraine in Zukunft ein liberaleres Land sein als unter Präsident Leonid Kutschma. Jedoch blieben zahlreiche Fragen offen, unter anderem die des Umgangs mit politischen Gegnern und der Renationalisierung von Unternehmen. Die Lage in Georgien und in Kirgistan schätzte er als viel problematischer ein. Zu den „eingefrorenen“ Konflikten in der GUS stellte er fest, dass die EU eine Tendenz habe, das Recht der Staaten zu verteidigen, nicht aber die Rechte der dort lebenden Menschen. Diese würden etwa  im Fall des Kosovo überhaupt nicht garantiert.
 
Wladimir Ryschkow bezeichnete nicht nur die Konzepte des „liberalen Imperiums“ und der „neuen Nachbarschaft“ als unangemessen, sondern widersprach auch seinen beiden Vorrednern in zahlreichen Punkten. Die meisten Probleme, die Nikonow im Hinblick auf die russischen Nachbarstaaten angesprochen hatte, seien hausgemacht: Russland habe nicht nur seine führende Rolle in der Region verloren, sondern sei für seine Nachbarländer im Unterschied zur EU auch nicht länger attraktiv. Das gelte in politischer, moralischer, ökonomischer und intellektueller Hinsicht. So verlangsame sich das Wirtschaftswachstum und die Wirtschaftsstruktur verschlechtere sich, da Russland mehr und mehr vom Rohstoffexport abhängig werde. Bevorzugte Bereiche der Wirtschaft seien der militärisch-industrielle Komplex, die Rohstoffe und die natürlichen Monopole, die wenig Perspektiven eröffneten. Hinzu kämen Kapitalflucht, eine sinkende Investitionsrate und soziale Probleme. Innenpolitisch habe sich in Russland ein klassisches autoritäres Regime herausgebildet. In der Außenpolitik bestehe die Tendenz, Konflikte einzufrieren. Das bringe zwar vorübergehend Stabilität, aber keinerlei Fortschritt.
 
Putin habe in seiner viel zitierten Rede vor der Föderationsversammlung zahlreiche drängende Probleme ausgespart. So sei er weder auf Beslan noch auf Jukos oder die Ukraine eingegangen. Die russische Führung habe keine Antworten auf die Herausforderungen des Terrorismus und der demokratischen Revolutionen. Russlands letzte Hoffnung blieben so Belarus und Lukaschenko. Es stelle sich bloß die Frage, was die weißrussische Bevölkerung davon halte. Ryschkow forderte von der russischen Regierung, eine neue Strategie für den Raum der ehemaligen Sowjetunion. Es sei wichtig, diese Staaten als selbständige Nationalstaaten anzuerkennen. Zudem seien Demokratisierung und Liberalisierung in Russland selbst notwendig.
 
Erich G. Fritz und Gert Weisskirchen zeigten sich gleichermaßen verwundert über die aktuell zu beobachtende Nostalgie in Russland für die sowjetischen Zeiten. Fritz kann darin keine gute Basis für die Entwicklung neuer politischer Ideen und die Kooperation Russlands mit den Staaten der GUS oder den neuen EU-Mitgliedsstaaten erkennen. Die Entwicklung eines selbstbewussten und kooperativen Stils werde durch solche nationalistische und rückwärtsgewandte Töne erschwert. Vor allem für jene in Russland, die in Einflusssphären denken und diese nicht aufgeben wollen, stelle die GUS dabei mehr als eine Erinnerung an die Sowjetunion dar. Auf diese Weise entstünden aber Bedrohungsszenarien, wie sie jetzt bei der Ukraine reaktiviert wurden. Das eigentliche Problem sei jedoch, dass Russland kein Konzept für eine gleichberechtigte Zusammenarbeit mit seinen Nachbarstaaten habe.
 
Weisskirchen machte auf die innenpolitischen Folgen aufmerksam. So sei in Putins Rede deutlich geworden, dass mit „Werten“ vor allem russische traditionelle Werte gemeint seien und weniger jene, die für Reformen und eine Europäisierung notwendig seien. Zugleich würden Werte wie Demokratie und Zivilgesellschaft verstaatlicht, denn die russische Präsidentschaft beantworte alle Probleme mit einer neuen staatlichen Struktur. Demokratie könne aber nicht entstehen, solange der „Bremsklotz Staat“ nicht entfernt werde. Zwar sei der Staat notwendig, biete aber keinen Ersatz für die Zivilgesellschaft. Seine Expansion ersticke die Kreativität und löse Privatisierungstendenzen aus, die ihrerseits zu einer neuen Gefahr für den Staat werden könnten. All dies führe nicht zu einem stärkeren Staat, sondern zu einem Verlust an Glaubwürdigkeit und Legitimation. In diesem Zusammenhang wies Weisskirchen auf das Lernpotenzial hin, das die Ukraine bieten könne und fragte, ob man dies in Russland nur als Gefahr sehe oder auch die Chancen wahrnehme.
 
Den Begriff „Zwischeneuropa“ lehnte Weisskirchen ab, da er geostrategisches Denken zum Ausdruck bringe und zu wenig den Prozesscharakter und die Offenheit der Ereignisse berücksichtige. Im Hinblick auf das Verhältnis der EU zu dieser Region stelle sich die Frage, was denn passiere, wenn die Ukraine den acquis communautaire übernommen habe. Dann könne eine EU-Mitgliedschaft wie für jedes andere Land in Europa nicht länger ausgeschlossen werden. Auf Russland könne dies jedenfalls einen starken Impuls ausüben.
 
Die folgende intensive Diskussion kreiste vor allem um die wechselseitige Wahrnehmung und um die Frage, ob Russland und die EU geostrategische Partner oder Konkurrenten seien und welche Bedingungen erfüllt sein müssten, damit beide Seiten in der Region zu einer Kooperation finden könnten. Hier zeigte sich Sergej Karaganow skeptisch. Zwar kam für ihn der Rückzug Russlands aus dem Raum der ehemaligen Sowjetunion nicht überraschend, doch müsse man fragen, ob die russischen Nachbarn aus dem Einflussbereich Russlands austreten oder nicht vielmehr von anderen herausgeführt werden. Nicht nur deshalb sei man in Russland enttäuscht über die EU. Wichtige Vereinbarungen seien nicht zustande gekommen – mit der Ausnahme der Regelung für Kaliningrad, wobei in Russland wegen der Visa-Bestimmungen Unzufriedenheit herrsche. Die Dokumente der EU zu den vier Räumen der Kooperation seien entweder inhaltsleer oder voller Minen. Das Vakuum, das im „Zwischeneuropa“ entstanden sei, sei mit harter Konkurrenz gefüllt worden; von einer gemeinsamen Strategie der EU und Russlands könne keine Rede sein. Daher müsse die russische Seite sich klar darüber werden, was sie von der EU erwarte, was allerdings darunter leide, dass es in Russland an EU-Fachleuten mangele. Soll man sich verhalten wie die USA oder eine schrittweise Integration mit der EU anstreben? Das hänge nicht zuletzt von der zukünftigen Gestalt Europas ab, denn Russlands Präferenz sei das Europa Adenauers und de Gaulles, das es so heute schon nicht mehr gebe.
 
Während Wladimir Lukin ihm im Grundsatz beipflichtete und auf Seiten der EU die Anwendung unterschiedlicher Standards gegenüber verschiedenen Staaten beklagte, sahen andere die Probleme eher auf der russischen Seite, wobei insbesondere die Verflechtung in der GUS unterschiedlich bewertet wurde. So sei heute nach Darstellung von Andrej Sagorskij allein noch Belarus auf Russland angewiesen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Ukraine sei dagegen stark zurückgegangen. Mit ukrainischen Produzenten stehe man auf südostasiatischen Märkten sogar in starker Konkurrenz. Seiner Auffassung nach ist der Zusammenbruch des postsowjetischen Entwicklungsmodells dort vor allem auf die Entfremdung zwischen der Regierung und der Bevölkerung zurückzuführen. Dabei sei die Ablösung undemokratischer Regime im Umfeld vorteilhaft für Russlands eigene demokratische Entwicklung, was auch Ryschkow betonte. Hierbei handele es sich erst um den Beginn eines Prozesses, den Russland auf Grund fehlender Mittel nicht steuern könne. Auch die EU zeige wenig Interesse an der Beeinflussung dieses Prozesses – für Timmermann ein Beleg, dass Russlands Einkreisungsängste jedenfalls nicht im – distanzierten – Verhalten der EU gegenüber den neuen Aspiranten begründet sein könne. 
 
Unterschiede zeigten sich indes auch in der Bewertung der EU. Während Klaus-Dieter Bergner auf die Attraktivität der EU verwies und diese mit ihrer funktionierenden Bürokratie, den freien Medien, der offenen Diskussion, der Schaffung eines Wohlstands- und Sicherheitsraumes sowie damit begründete, dass Deutschland, Großbritannien und Frankreich es verstanden hätten, den kleinen Staaten genügend Spielraum zu geben, zeigte sich Wilhelm Hankel skeptischer. Er verwies darauf, dass außerhalb und insbesondere in der Dritten Welt die EU als egoistischer Handelsblock wahrgenommen werde. Die GUS als eine Art Commonwealth mit Freihandelszone und einem politischen System der Demokratie könne daher durchaus ein Gegenmodell zur EU werden.
 
Schließlich wurde mit Blick auf Deutschland die Frage aufgeworfen, ob nicht auch dort eine zunehmende Tendenz zur Bilateralisierung mit nationalstaatlicher, geostrategischer Ausrichtung und damit eine Distanzierung von der gemeinsamen EU-Außenpolitik festzustellen sei. Dies sei, so Gunther Hellmann, ein deutlicher Abschied von bundesdeutschen Traditionen und führe zu der Frage, welche Vorteile dies eigentlich biete? Dem hielt Brandenburg entgegen, dass es in Deutschland – auch wegen der Zuwanderer aus Russland – zwangsläufig ein stärkeres Interesse an einer Kooperation mit Russland gebe als in anderen EU-Staaten – auch wenn auf der anderen Seite Alexander Rahr das sinkende Interesse bei der deutschen außenpolitischen Elite beklagte, die dem postsowjetischen Raum nur mehr wenig Bedeutung beimesse. Gleichwohl geschehe dies nicht in Konkurrenz zur EU. Allerdings könne die EU gegenwärtig kaum eine kohärente Außenpolitik betreiben, da die Mitgliedsstaaten es generell weder für vertretbar noch für sinnvoll hielten, ihre eigene Außenpolitik aufzugeben. Auf keinen Fall werde Deutschland aber eine eigene Rolle bei der Konfliktlösung im GUS-Raum übernehmen; eine Teilnahme sei nur im multilateralen Rahmen denkbar.
 
 
 
Panel 2:
Iran und Nord-Korea:
Bedingungen einer kooperativen Non-Proliferationspolitik

 
Die Gefahr der Verbreitung von Atomwaffen steigt und damit nolens volens auch die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes. Je mehr Staaten über Kernwaffen verfügen, desto mehr eröffnen sich auch für nichtstaatliche Akteure die Zugriffsmöglichkeiten auf nukleares Material oder Waffen. Hier gibt es folglich für Russland, die EU und die USA gemeinsame Herausforderungen und vitale gemeinsame Interessen, die sich bislang jedoch nur unzulänglich in eine gemeinsame Praxis übersetzen. Das zeigt sich am deutlichsten im Umgang mit den beiden aktuell gravierendsten Fällen: Nord-Korea und Iran, die in den beiden Einführungen aus deutscher und aus russischer Sicht detailliert beleuchtet wurden.
 
Harald Müller leitete seinen Beitrag mit Thesen über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der deutschen und russischen Interessenlage ein. Als Parteien des Nichtverbreitungsvertrags seien beide prinzipiell an der Stabilität dieses Regimes interessiert; das gelte aber nicht uneingeschränkt. Russlands Stellung als Kernwaffenmacht relativiere sich durch die steigende Zahl von Kernwaffenstaaten. Deutschland als kernwaffenfreier Staat wolle die Distanz zu den besitzenden Staaten verringern und habe daher ein Interesse an der Abrüstung vor allem taktischer Kernwaffen sowie an der Transparenz des Abrüstungsprozesses. Dies wiederum schränke den Handlungsspielraum der Atomstaaten ein. Russland sei daher hier weniger enthusiastisch. Auch bei der zivilen Nutzung der Kernenergie zeigten sich deutliche Unterschiede: Deutschland betreibe eine Ausstiegspolitik, während Russland ehrgeizige Ausbaupläne verfolge. An der Schnittstelle zwischen ziviler und militärischer Nutzung führe dies zwangsläufig zu Spannungen. Dies komme, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, bei den beiden aktuellen Konfliktfällen zum Ausdruck.
 
Die Ausgangslage in Nord-Korea beschrieb Müller wie folgt: 1965 erhielt das Land einen Forschungsreaktor aus der Sowjetunion, 1986 trat es dem Nichtverbreitungsvertrag bei, schloss 1992 ein Verifikationsabkommen mit der Internationalen Atomenergiebehörde, wurde jedoch kurz darauf falscher Angaben überführt. Durch den Abschluss eines Rahmenabkommens mit den USA schien der Konflikt 1994 bei-gelegt, und es wurde die Lieferung von zwei Leichtwasserreaktoren zugesagt. 2002 wurde bekannt, dass Nordkorea durch den Kauf von Uranzentrifugen aus Pakistan gegen das Abkommen verstoßen hatte. Sodann trat das Land aus dem Nichtverbreitungsvertrag aus, was die anderen Mitglieder – auf-grund eines Formfehlers – nicht anerkennen. Im Jahr 2005 erklärte die nordkoreanische Regierung schließlich, Atomwaffen zu besitzen und drohte mit einem Nukleartest. Zugleich wurden die Arbeiten in einer Testanlage wieder aufgenommen. Diplomatische Anstrengungen drehten sich bislang im Kreise, auch weil die USA lange zögerten, die geforderten sicherheitspolitischen Zugeständnisse zu machen. Stattdessen wurden verbale Geschütze aufgefahren und Nord-Korea in die „Achse des Bösen“ aufgenommen. Erst in jüngster Zeit schienen die USA bereit, vorsichtige Angebote zu machen. Die Lösungschancen beurteilte Müller pessimistisch, da Atomwaffen die einzige Trumpfkarte Nord-Koreas seien, wobei es vor allem auch um den Erhalt des Regimes gehe. Das Problem lasse sich nur einhegen, nicht lösen. Militärische Aktionen seien aber nicht zielführend, auch hier hätten die USA bislang keine klare Linie. Die EU wiederum sei in diesem Konflikt nur ein randständiger Akteur.
 
Der Iran betreibe, so Müller, zwei Atomprogramme. Das zivile Programm wurde zuerst von Deutschland, später von Russland unterstützt. Seit 1985 habe der Iran unangemeldete Aktivitäten bei der Anreicherung und Wiederaufarbeitung durchgeführt und durch deren Verschweigen das Verifikationsabkommen verletzt. Seit der Aufdeckung im Jahr 2002 habe er zudem nur zögerlich Informationen preis gegeben. So seien bis heute die Zweifel, ob alle Daten offen gelegt wurden, nicht ausgeräumt. Auch der Iran befinde sich in einer virulenten Konfliktzone, und die Erfahrung der Iraner mit den USA seien in der Vergangenheit alles andere als positiv gewesen: Erinnerungen an verdeckte Interventionen, Isolierung, nicht-sanktionierte Angriffe etc. seien präsent. Bei den Militärs sei daher der Gedanke an eine nicht hintergehbare Abschreckung attraktiv.
 
Im Falle des Irans seien die diplomatischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft. Deutschland, Großbritannien und Frankreich versuchen seit mehr als einem Jahr, den Iran zur Aufgabe seiner Aktivitäten zu bewegen, wobei das Land auf Urananreicherung zumindest in einer Versuchsanlage beharre und auf das Recht zur zivilen Nutzung der Atomenergie verweise. Die EU setze auf wirtschaftliche und technologische Anreize, doch seien bei den entscheidenden sicherheitspolitischen Fragen vor allem die USA gefordert. Diese zeigten sich jedoch unbeweglich und machten nur kleinere Zugeständnisse. Relevante Kräfte in der US-Administration seien vor allem an einem Regimewechsel im Iran interessiert und gingen davon aus, damit auch das Atomproblem zu lösen. Russland befinde sich als Irans Partner im Nuklearsektor in einer Schlüsselposition. Die Vereinbarung über die Rücknahme abgebrannter Brennstoffe beseitige zwar eine Gefahrenquelle, doch forderte Müller Russland auf, dem Iran zu verdeutlichen, wo die Grenze für die nukleare Zusammenarbeit verlaufe. Auch sei zu klären, unter welchen Bedingungen Russland und die EU die Angelegenheit an den UN-Sicherheitsrat weiterleiten würden.
 
Wladimir Orlow verwies in seiner Einführung darauf, dass Nord-Korea bislang nicht über Atomwaffen verfüge, sondern lediglich eine politische Entscheidung für deren Produktion getroffen habe, die man aber benutze, um politischen Druck auszuüben. Gleichwohl sei die Situation ernster als im Iran. Finanzielle Anreize und Sicherheitsgarantien seien die entscheidenden Instrumente. Russland verfüge dabei über nur geringe Einflussmöglichkeiten, z.B. über den Dialog russischer und nordkoreanischer Atomwissenschaftler und eine bessere Migrationspolitik. Verhandlungen seien nicht zuletzt daran gescheitert, weil die USA ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen seien. Jedoch seien Erfolge möglich, wenn die USA sich bewegten.
 
Nicht nur mit Nord-Korea, sondern auch mit dem Iran befinde sich Russland in direkter Nachbarschaft. Allerdings sei der Iran auch ein möglicher zukünftiger Nachbarstaat der EU. Der Iran betreibe primär eine zivile Nutzung der Kernenergie, es bestehen aber Möglichkeiten der kurzfristigen „Umnutzung“. Der Iran wehre sich wie andere dagegen, von der technologischen Entwicklung abgeschnitten zu werden. Was die russische Haltung betrifft, so erlaube Artikel IV des Nichtverbreitungsvertrages die Zusammenarbeit zwischen Staaten zur zivilen Nutzung der Kernenergie, also auch jene zwischen dem Iran und Russland. Die Kooperation zwischen beiden beschränke sich derzeit auf den Bau eines ersten Kraftwerksblocks im Hafen Bushehr, doch sei der Bau weiterer sieben Blöcke ins Auge gefasst. Von diesen Projekten gehe keine Gefahr aus. Jedoch sei die Kooperation vor allem wegen des möglichen Imageschadens problematisch. Offiziell unterhalte Russland eine strategische Partnerschaft mit dem Iran, der jedoch das nötige Vertrauen fehle und die bisher keinen wirtschaftlichen Gewinn abwerfe. Der Iran betreibe ein doppeltes Spiel, da das Land sowohl mit Russland als auch mit der EU verhandele. Daher sei eine Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU notwendig, und es sei wichtig, im Iran internationale Projekte durchzuführen, die verdeutlichen, dass man das Land nicht von der Forschung auf dem Gebiet der Atomenergie abkoppeln, sondern streng kontrollieren will.
 
Die nachfolgende Diskussion konzentrierte sich auf die Interessen der USA und Russlands sowie auf die Rolle Israels und die Chancen einer atomwaffenfreien Zone im Nahen Osten. Nach Auffassung von Ernst-Jörg von Studnitz sei für die USA die Politik des Regimewechsels der Dreh- und Angelpunkt geworden, worauf in ähnlicher Weise auch Günter Jötze und Ernst-Otto Czempiel, letzterer mit der These eines „selektiven Oktrois“, verwiesen. Das werfe sowohl für Nord-Korea als auch für den Iran erhebliche Existenz- und Sicherheitsprobleme auf. Die Aufgabe deutscher und russischer Diplomatie müsse es daher sein, auf die USA einzuwirken, auf militärischen Druck zu verzichten. Für diese Staaten erweise sich sonst die Atomwaffe als „Waffe der letzten Zuflucht“. Nikonow hielt dem entgegen, dass Nord-Korea wie auch der Iran keinem anderen Staat Vertrauen entgegenbringen, während Müller die These vertrat, dass im Falle Nord-Koreas die Lösung tatsächlich im Regimewechsel liege. Dieser stelle sich jedoch um so weniger ein, je mehr man darüber spreche.
 
Unterschiede zwischen Nord-Korea und dem Iran sah Czempiel in der Tatsache, dass beim Iran ein Land in dessen Nachbarschaft – Israel – bereits über Atomwaffen verfüge. Dies erweiterte Dietrich Sperling um das mögliche Szenario, dass Israel, mit Präzisionswaffen aus den USA ausgestattet, die iranische Aufrüstung militärisch verhindern könnte. Zwar werde diese Option, so Müller, in den USA lebhaft diskutiert. Es gebe aber einen Konsens, dass man mit Präzisionswaffen nicht alle Ziele zuverlässig ausschalten könne, und auch die politischen Kollateralschäden würden als unverhältnismäßig hoch erachtet. Die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone könnte eine Lösung darstellen. Das gelte aber nur langfristig, und es sei schwierig, den Iran mit einem solchen Vorschlag zum Verzicht auf seine Optionen zu bewegen. Orlow äußerte in diesem Zusammenhang Zweifel, dass Israel seine Waffen je aufgeben werde, so dass diese Zone gar nicht ernsthaft diskutiert werden könne.
 
Kritik an der  russischen Rolle im iranischen Atomprogramm äußerten Nikolas Busse und Hannes Adomeit. So stelle die Lieferung des Bushehr-Reaktorblocks eine problematische Vorleistung dar, und die russische Politik habe sich bislang dagegen gewehrt, vom Iran einen Verzicht auf seine Anreicherungspolitik zu fordern. Genau dies sei aber das Ziel der Europäer. Auch bringe die russische Kooperation allein schon deshalb Probleme mit sich, da man nicht kontrollieren könne, ob die russischen Fachkräfte im Iran womöglich bei geheimen Waffenprogrammen assistierten. Das erleichtere die europäische Strategie ebenfalls nicht. Dem hielt Orlow entgegen, dass auch andere Länder und Firmen an den Iran lieferten, aber alle auf Russland deuteten.
 
  
 
Panel 3:
Investitions- und Energiesicherheit at risk?
Die Jukos-Affäre und ihre Folgen

 
„Curse or Cure?“ Ist Ressourcenreichtum für wirtschaftliche Entwicklung und demokratische Entfaltung ein Fluch oder ein Segen? Diese Frage stand im Mittelpunkt der Diskussion um die Folgen der Jukos-Affäre. Während unmittelbare Konsequenzen für die Kooperation zwischen Russland und der EU bei der Energieversorgung nicht wahrgenommen wurden, stellte sich dies bei der Investitionssicherheit anders – und sehr viel kontroverser – dar, ebenso wie bei der Bewertung der politischen Signale, die von dem Konflikt um einen der größten russischen Ölkonzerne und seine Eigentümer ausgehen. Zwei Beiträge führten hier in das Thema ein.
 
Andrej Konopljanik hob einleitend die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU im Energiesektor hervor. Energiesicherheit umfasse stabile, billige und umweltfreundliche Energieförderung sowie Preis- und Liefersicherheit. Hinsichtlich der Lieferungen russischen Gases nach Europa erwähnte er folgende Besonderheiten: langfristige Verträge, die Barzahlung vorsehen, Verkäufe ab der EU-Grenze, die „destination clauses“ sowie die Schlüsselrolle des Gastransits. Daraus ergeben sich folgende Probleme: Erstens sträubte sich die EU gegen eine weitere Unterzeichnung langfristiger Verträge. Langfristige Verträge seien aber notwendig, um das Risiko der kapitalintensiven Projekte der Öl- und Gasförderung in Gebieten mit fehlender oder unzureichender Infrastruktur zu tragen. Angesichts dessen habe die Europäische Kommission unlängst der Beibehaltung dieser Vertragsform für die Belieferung der EU-Mitgliedsstaaten zugestimmt. Zweitens befinden sich die Lieferziele, die früher an oder außerhalb der EU-Grenze lagen, nun durch die EU-Er­weiterung auf dem Gebiet der EU. Damit stelle sich die Frage nach dem Zugang zu den Röhren, die sich im Eigentum Russlands befinden. Vor dem Abschluss neuer langfristiger Verträge müsse daher das Problem der Bedingungen für den Zugang Dritter zu den auf EU-Gebiet befindlichen russischen Röhren gelöst werden. Eine zufriedenstellende Lösung dieses Problems sei jedoch in naher Zukunft nicht zu erwarten.
 
Was den Fall Jukos betrifft, betonte Konopljanik, dass zahlreiche Unternehmen aller Branchen ungesetzliche Methoden bei der Privatisierung angewandt, die Rechte von Kleinaktionären verletzt und Steuersünden begangen hätten. Jedoch müsse man bei Jukos folgende Besonderheiten beachten: Jukos habe gegen das Production Sharing Agreement (PSA) gekämpft mit dem Ziel, Konkurrenten auszuschalten und dies für Preisdiktate zu nutzen. Ferner habe die Firma massiv Abstimmungen in der Staatsduma zu beeinflussen gesucht, und nicht zuletzt seien die politischen Ambitionen Chodorkowskijs zu nennen. Er habe damit das stillschweigende Übereinkommen zwischen der Regierung und den Wirtschaftsakteuren über politische Enthaltsamkeit verletzt. Zugleich sei der Fall Jukos aber auch eine Auseinandersetzung zwischen Konkurrenten und der Versuch, westliche Investoren vom russischen Territorium fernzuhalten. Auch wenn die wirtschaftlichen Argumente der Anklage plausibel seien, handele es sich doch vor allem um ein politisches Verfahren, und die Verhaftung Chodorkowskijs demonstriere die Schwäche und Kurzsichtigkeit der russischen Regierung. Der russische Staat hätte auf die Vergehen von Jukos in anderer Weise reagieren können, so Konopljanik. Was die Folgen für die Investitionssicherheit betrifft, müsse man zwischen strategischen Investoren, die an langfristigen Kapitalinvestitionen interessiert sind, und Portfolio-Investoren unterscheiden. Für letztere entstehe sicherlich ein Schaden. Jedoch sei dieser für strategische Investoren eher minimal, denn es gebe Wege, Auslandsinvestoren auch künftig für gemeinsame Aktivitäten zu interessieren.
 
Wolfram Schrettl hielt einleitend fest, dass die Europäische Union zwar an sicherer Energie interessiert sei, Energiesicherheit heiße aber nicht primär, besonders gute Abschlüsse mit der Russischen Föderation zu machen, sondern schließe eine Diversifizierung der Bezugsquellen ein. Die Nachfrage auf den Weltenergiemärkten werde gegenwärtig von Indien und China geprägt, was die Preise nach oben treibe, aber nicht bedeute, dass die Energieversorgung generell unsicher geworden sei. Schließlich seien auch die Anbieter auf Verkäufe angewiesen, denn die energieexportierenden Staaten zeichneten sich durch hohe Importe aus, die sie nur bei hohen Energiepreisen tätigen könnten.
 
In diesem Zusammenhang formulierte Schrettl die These, dass auch der Zerfall der So-wjetunion nicht von der Energiefrage zu trennen sei, denn nach deren Ende befand sich der weitaus größte Teil der Ressourcen auf dem Territorium der Russischen Föderation. In der Folge wurden die Energielieferungen an Staaten der GUS reduziert und insgesamt höhere Preise verlangt. Daraus könne man folgern, so Schrettl, dass die „größte geostrategische Katastrophe“ zumindest zum Teil von Russland selbst induziert war, um wirtschaftlich zu profitieren. Auch dürfe nicht übersehen werden, dass der Charakter politischer Regime häufig dergestalt von der Ressourcenausstattung abhänge, als energiereiche Staaten zum Autoritarismus tendieren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sei Russland hier ein „natürlicher Kandidat“ gewesen. Energiereiche Staaten tendierten aber auch dazu, auseinander zu fallen. Hier ergebe sich eine weitere Verbindung zum Autoritarismus, da mit autoritären Mitteln die staatliche Einheit erhalten werde – so wie es in Russland eine der wichtigsten Maximen sei, die territoriale Integrität zu wahren.
 
Zum Fall Jukos registrierte Schrettl im Unterschied zu Konopljanik sehr wohl eine Verunsicherung bei ausländischen und russischen Investoren. Das gelte allerdings weniger für den Energiesektor, denn Öl und Gas werden üblicherweise in instabilen Ländern – wie Nigeria oder Venezuela – gefördert, so dass die ausländischen Partner solche Probleme gewohnt seien. Auch könne die europäische Energieversorgung insoweit profitieren, als Chodorkowskij sich auf den amerikanischen Markt konzentrieren und eine spezielle Leitung nach China bauen wollte. Kurzfristig seien sowohl die Ölförderung als auch das Vertrauen der Investoren zurückgegangen, aber mittelfristig werde sich die Lage beruhigen. Grundsätzlich bezeichnete Schrettl Jukos als einen typischen „Geburtsfehler“ der russischen Marktwirtschaft. Jede Lösung des Problems sei unappetitlich, die Enteignung wie das laissez faire. Gleichwohl handele es sich um einen Test für die Leistungsfähigkeit des russischen Staates und die Bereitschaft, sich europäische Werte zu eigen zu machen.
 
In der Diskussion widersprach Ruslan Grinberg dezidiert der These, dass Russlands Energielastigkeit Folgen für das politische System hätte und dass Russland Vorteile aus dem Zerfall der Sowjetunion gezogen habe. Vielmehr subventioniere man bis heute Belarus und auch die Ukraine mit billigen Energielieferungen. Hannes Adomeit widersprach der These, dass energiereiche Staaten zum Zerfall tendieren. Seiner Meinung nach sei der Zerfall der Sowjetunion in erster Linie auf die politischen Differenzen zwischen Gorbatschow und Jelzin zurückzuführen. Peter W. Schulze wandte ein, dass auch der Umkehrschluss möglich sei. So könnten internationale Investoren die Differenzen im Land ausnutzen, was nur starke Staaten – mit staatlichen Traditionen – verhindern könnten. In ähnlicher Weise diagnostizierte Grinberg in Russland aktuell einen Übergang von einem oligarchischen zu einem bürokratischen Kapitalismus. Angesichts eines schwachen Staates hätte man den oligarchischen Kapitalismus nicht anders eindämmen können. Hierzu bekräftigte Schrettl abschließend, dass es selbstverständlich keine monokausale Erklärung gebe, aber ökonomische Interessen spielten bei der Bildung und beim Zerfall von Staaten sowie beim Charakter des politischen Systems eine nicht zu übersehende Rolle.
 
Zu den Folgen der Jukos-Affäre machte Wladimir Ryschkow geltend, dass nicht nur die Ölförderung gesunken sei, sondern auch das Wachstum der Investitionen – und zwar um 70 Prozent. Den vermeintlichen Sünden von Jukos hätten sich alle Ölfirmen schuldig gemacht, und dass Chodorkowskij Präsident werden wollte, verwies er in das Reich der Kreml-Legenden. Jukos habe eine hohe Kapitalisierung gehabt und neue Produktionslinien eingeführt. Außerdem habe das Unternehmen fünf Prozent zum föderalen Budget beigetragen. Die indirekten Schäden, durch Kapitalvernichtung und Lähmung der Börse bezifferte er auf 100 Milliarden US-Dollar.
 
Dem hielt Wjatscheslaw Nikonow entgegen, dass drei Oligarchen – Beresowskij, Gusinskij und Chodorkowskij – sehr wohl gegen die unausge­sprochene Spielregel – keine Einmischung in die Politik der Föderation – verstoßen hätten. Chodorkowskij unterstützte nicht nur bestimmte Kandidaten und Parteien bei den Duma-Wahlen, sondern habe selbst Ambitionen gehabt, Präsident zu werden. Die Tatsache, dass er nicht für die eigentlichen „Sünden“, sondern für andere Vergehen angeklagt wurde – ein Einwand von Roland Götz – sei unerheblich; schließlich habe man Al Capone auch nicht für seine wahren Verbrechen verurteilt.
 
Nach Auffassung von Peter W. Schulze betreibe Russland eine sehr rationale Energiepolitik, indem es eine Diversifizierung der Lieferungen anstrebe und sich so nicht an einen Abnehmer binde. Was die Jukos-Folgen angehe, machte er auf die wachsende Zahl deutscher Investoren in Russland aufmerksam, und zwar auch die kleiner und mittelständischer Unternehmen. Auch steige das Rating Russlands als „most promising emerging market“. Er beobachte daher eine Asymmetrie zwischen dem öffentlich gezeichneten Bild, das sich – zusammen mit der russischen Kritik – selbst reproduziere und der wirtschaftlichen Realität. Hierzu präsentierte Jürgen Möpert aus seinem Tätigkeitsfeld in Russland, der Kooperation zwischen der BASF und Gasprom, praktisches Anschauungsmaterial, das den Bogen zur Energiesicherheit zurück schlug. Dabei ging es vor allem um die Erschließung der Lagerstätten in der Barentsee. Das Gemeinschaftsunternehmen WinGas betreibe die Vermarktung von Gas, wobei es eine paritätische Vertretung beider Partner gebe. Neu daran sei, dass die Kooperation heute die gesamte Kette von der Förderung bis zu den Stadtwerken umfasse und durch langfristige Verträge gesichert sei. Man berücksichtige damit auch die legitimen Interessen der Produzenten am Anfang der Kette. Und dies habe dazu beigetragen, dass die russischen Produzenten daran interessiert seien, Gas nach Europa und weniger nach Indien oder China zu liefern.


Panel 4:
Im Schatten des September:
Doppelstandards und die Aussichten der
gemeinsamen Terrorbekämpfung

 
Im Zentrum der Vorträge und der Diskussion des letzten Panels standen die Versuche einer Definition von „Terrorismus“ sowie die Beurteilung der Rolle Russlands bei der Terrorbekämpfung und bei den Regionalkonflikten in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Insgesamt vier Beiträge leiteten in die Diskussion ein.
 
Nach Darstellung von Sergej Karaganow habe die Bekämpfung des Terrorismus in Russland eine hohe Priorität, auch wenn Putin darauf in seiner Rede vor der Föderationsversammlung nicht explizit eingegangen sei. Für Russland sei der Terrorismus vor allem eine Folge der Gefahren an seinen südlichen Grenzen und dort namentlich des Islamismus. In diesem Zusammenhang wies er auf die Instabilität der Region von Pakistan und Kasachstan bis zum Maghreb hin. Das Gebiet zeichne sich durch seinen Energiereichtum aus und durch ein historisches Gedächtnis kultureller Überlegenheit gegenüber dem Westen. Es handele sich überwiegend um „failed states“, denen die Anpassung an die Be­dingungen der Globalisierung nicht gelungen sei. Für Russland selbst aber sei der Terrorismus mit der Frage des Separatismus verbunden. Darum auch sei für die EU das Thema weniger drängend, da es nicht die nationale Integrität ihrer Mitgliedsstaaten gefährde. Im Gegensatz zu Russland habe Europa die Phase des Separatismus und des Aufbaus von Nationalstaaten bereits hinter sich. Da beide in unterschiedlichen historischen Zeitaltern leben, die mit jeweils spezifischen Herausforderungen und Werten verbunden seien, könne er auch die „Doppelstandards“ nachvollziehen.
 
In der EU herrsche eine Kultur des Post-Nationalismus und der Ablehnung direkter Gewaltanwendung. Westeuropa erkenne nicht an, dass Russland die Grenze zu Tschetschenien gehalten habe, obwohl dies gerade angesichts der Routen für den Drogenhandel relevant sei. In Tschetschenien habe man es mit einem Nest des internationalen Terrorismus zu tun. Zwar sei Russland mit furchtbaren Methoden vorgegangen, es sei aber das einzige Land in Europa, das blutige Konflikte schnell beenden oder einfrieren konnte, wie in Transnistrien, Abchasien, Berg-Karabach und Süd-Ossetien. Hier habe Russland große Opfer gebracht. Und bei allen Fehlern in Tschetschenien könne ihm dies in den vier anderen Gebieten nicht vorgeworfen werden. Leider würden einige westliche Länder – vor allem die USA – hier Druck ausüben, um in anderen Bereichen (so beim Handel und beim WTO-Beitritt) Zugeständnisse zu erreichen. Es sei aber dessen ungeachtet nur konsequent, im Irak  die USA zu unterstützen, denn dieser diene als Anziehungspunkt für die „Terroristische Internationale“.
 
Mit Blick auf die Schaffung eines Systems gemeinsamer Sicherheit beklagte Karaganow, dass nur allgemein diskutiert werde und nur einzelne Elemente vorhanden seien, aber ein solches System sei nicht wirklich implementiert. Er vermutete, dass Europa im Moment nicht daran interessiert sei, Russland in ein gemeinsames Sicherheitssystem zu integrieren. In welchem Rahmen soll eine Kooperation stattfinden? Eine Variante sei die Umwandlung der NATO von einem militärisch-politischen zu einem politisch-militärischen Bündnis. Bisher habe die NATO nur eine Erweiterung um „Sicherheitskonsumenten“ durchgeführt. Russland dagegen sei ein Produzent von Sicherheit. In einer veränderten NATO, die sich wirklich der Abwehr von Gefahren zuwende, könne auch Russland Mitglied werden.
 
Rudolf Scharping vertrat in seiner Einführung die These, dass es bei der Terrrorismus-Bekämpfung Gemeinsamkeiten und dass es bei der tatsächlichen Bedrohung keine Unterschiede gebe. Wenn der islamisch geprägte Raum ein großes Reservoir für den Terrorismus biete, so werde das Risiko aufgrund des Bevölkerungswachstums und der unsicheren Aus­sichten eher steigen als sinken. Traditionelle Sicherheitspolitik bleibe notwendig und müsse verbessert werden. Sie sei aber unzureichend, wenn man sich mit den Wurzeln des Terrorismus beschäftige. In dieser Hinsicht nehme Deutschland eine „sym­pathische Haltung“ ein und umgebe sich mit einem karitativen Mantel. Aber die Haltung der USA sei wohl realistischer.
 
In der NATO bestehe ein politischer Konsens, Fähigkeiten zur Bekämpfung von Krisenursachen zu entwickeln. Darüber und über die Abstimmungsmechanismen werde ein intensiver Dialog geführt. Scharping lehnte es ab, immer neue Bündnisgedanken zu entwickeln. Zunächst sei es notwendig, die Grundlagen der Kooperation zu klären und strategische Fähigkeiten zu entwickeln. Was die EU betrifft, so rede diese zwar viel über Sicherheitspolitik, aber die Renationalisierung der Außenpolitik und der außenpolitischen Interessen vollziehe sich schneller als der umgekehrte Prozess der Vergemeinschaftung dieses Politikfeldes.
 
Wladimir Lukin widmete seine Einführung vor allem der Frage, wie man Terrorismus definieren könne. Seiner Meinung nach müsse man zwischen der Motivation und den Mitteln des Terrorismus unterscheiden. Lukin schlug vor, den Aspekt der – möglicherweise legitimen – Motivation zu vernachlässigen und stattdessen Terrorismus als unverhältnismäßige Methode zur Lösung politischer Probleme zu betrachten. Auch bestehe das Problem des „katastrophalen“ Terrorismus, der mit der rapiden Verbreitung von Hochtechnologien entstehe, die einem immer größeren Kreis von Personen zugänglich und einfacher in der Handhabung werden. Nach Meinung von Lukin geht es nicht um die Frage, ob die Bedrohung durch den „katastrophalen“ Terrorismus real sei, sondern allein darum, wann es dazu kommen werde. Angesichts dessen blieben die Reaktionen der Staaten und der Öffentlichkeit hinter den Erfordernissen zurück.
 
Ein weiteres Problem stelle das gegenseitige Vertrauen dar. Nach 2001 hatte sich die Zusammenarbeit zwischen den USA, Russland und der EU merklich verbessert. Im Moment jedoch gehe sie – zum Teil im Zusammenhang mit dem Irak – wieder zurück. Auch zwischen Russland und der EU funktioniere der Informationsaustausch nur einseitig. Während Russland Informationen zur Verfügung stelle, erhalte es von der EU wenig bis nichts. Nach seinem Eindruck sind die Diskrepanzen auf diesem Gebiet nicht zuletzt auf verschiedene Herangehensweisen an den Terrorismus und die ungenügende Abgrenzung zwischen den Handlungsweisen und den Motiven der Terroristen zurückzuführen.
 
Nach Auffassung von Vera Lengsfeld greife die Vorstellung, dass Armut Terrorismus fördere, zu kurz. Die Hauptquelle sei eine totalitäre Denkweise, mit der man sich auseinandersetzen müsse, wenn man den Terrorismus erfolgreich bekämpfen wolle. Die Ereignisse des 11. September enthielten kein „gerechtes Element“, vielmehr sei es ein totalitäres Element, da es um Macht und Weltherrschaft gehe. Insoweit auch habe sich seit Ende der 1990er Jahre der Charakter des Terrorismus verändert. Heute sei es nicht länger das Ziel der Terroristen, spezifische Politiker zu treffen, sondern die Zivilbevölkerung massenhaft.
 
Russland könne bei der Terrorismusbekämpfung eine wichtige Rolle spielen. Es befinde sich in einer besonders gefährdeten Lage, da es mit Tschetschenien den Terrorismus im eigenen Land habe. Dabei sehe sich die russische Armee in Tschetschenien zahlreichen Problemen gegenüber: geringer oder ausbleibender Sold, Befehlsunsicherheit, Waffenhandel und Korruption. Man könne zudem die angewandten Methoden nicht billigen. Zwar müsse man Terrorismus konsequent bekämpfen - auch militärisch -, dürfe aber nicht dulden, dass die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen werde. Auch dürfe man nicht jene Mittel anwenden, die man bei den Terroristen selbst bekämpft. Unterstützung für Russland bedeute nicht, dass man unkritisch sein müsse. Das gelte auch für die Ereignisse im Moskauer Theater „Nord-Ost“ und die Geiselnahme von Beslan. Versage man bei der Bekämpfung des Terrorismus, stelle dies ein Scheitern bei der Verteidigung der Werte dar, die Europa so attraktiv machten.
 
Eine intensive Diskussion entzündete sich an der Frage, wie Terrorismus zu definieren sei. Egbert Jahn charakterisierte Terrorismus als einen Verlegenheitsbegriff für den Umgang mit rechtlich illegitimer Gewalt, der allerdings erst seit 10 bis 12 Jahren in dieser Form verwendet werde. Historisch betrachtet seien alle Terrorismus-Probleme nur politisch gelöst worden. Karl Grobe-Hagel fragte, wo die Grenze zwischen staatlichem Handeln und Staatsterrorismus zu ziehen sei. Und mit welchen Mitteln wolle man den Terrorismus angehen, wenn man die Frage der Ursachen weglasse und sich nur auf die Symptome beschränke? Matthes Buhbe wies ebenfalls darauf hin, dass man die Akteure in die Definition einbeziehen müsse, denn Terrorismus gehe nicht allein von nicht-staatlichen Akteuren aus, wie die Angriffe des Irak oder der Türkei auf die Kurden zeigten. Von Studnitz gab dagegen zu bedenken, dass die Unterscheidung zwischen Mitteln und Motiven sinnvoll sei. Betrachte man die Mittel, beziehe man auch den Staatsterrorismus mit ein. Man müsse sich darauf einigen, gewisse Mittel zu ächten. Sodann gelte es, das Problem des Terrorismus zu lösen, indem man auf die Motive eingehe.
 
Rudolf Scharping plädierte dafür, den Staatsterrorismus außen vor zu lassen, da sonst keine Einigung möglich sei. Ein Charakteristikum sei die Kombination der technischen Moderne mit einer geistigen Haltung des Mittelalters, d.h. vordemokratischem Denken vor der Aufklärung. Ziel sei es, möglichst viele Opfer und Schaden zu verursachen. Zudem werden für Angriffe vor allem symbolische Orte gewählt. Seit dem Westfälischen Frieden gebe es eine Verstaatlichung der Gewalt, die nach innen durch die Schaffung des Gewaltmonopols und die zivile Lösung von Konflikten und nach außen durch das Kriegsführungsmonopol gekennzeichnet war. Beides werde durch den Terrorismus gezielt unterhöhlt.
 
Dem hielt Günter Joetze entgegen, dass es die Diskussion verfälsche, wenn jede Niederschlagung eines Aufstands als Kampf gegen den Terror bezeichnet werde. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei zu beachten. Man müsse das Milieu in den Blick nehmen, in dem Terrorismus wachse, aber die zugrunde liegenden Bedingungen seien nicht identisch mit den Motiven und Zielen. Mit der Einbeziehung des Staatsterrorismus in die Definition erweise man humanitären Anliegen keinen Gefallen. Der Fall des Staatsterrorismus sei weitgehend verrechtlicht und es gebe rechtliche Instrumente, nicht zuletzt die Haager Landkriegsordnung. Dem pflichtete Wilhelm Hankel bei. Deshalb auch würden Terroristen mit der Polizei bekämpft und nicht mit der Armee. Das sei sinnvoll, da man durch Verwischung von Militär- und Zivilverwaltung die eigene Verfassung und das Völkerrecht in Frage stelle. Die amerikanische Doktrin, den Terrorismus als „Weltstaatsfeind“ zu betrachten, öffne einer solchen Verwischung Tür und Tor. Karaganow schlug angesichts der Diskussion vor, Terrorismus als jede Art von Gewalt gegenüber XY mit politischen Zielen zu definieren. Das schließe allerdings ein, nationale Befreiungskämpfe und separatistische Abspaltungen nicht zu fördern.
 
Ein zweiter Diskussionsstrang konzentrierte sich auf Russlands Rolle in den „eingefrorenen“ Konflikten an seiner Peripherie. Hier monierte Hannes Adomeit, dass entgegen den offiziellen russischen Behauptungen in Tschetschenien weder eine Stabilisierung noch gar eine Befriedung gelungen sei. Hass und Gewalt brechen immer wieder auf. Das grundsätzliche Problem und die Gefahren seien nicht beseitigt. Lukin räumte ein, dass die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien erheblich seien, gab aber zu bedenken, dass der Schutz dieser Rechte einer Politisierung und Konjunktur unterworfen sei. Auch plädierte er dafür, Separatisten, die nicht an bewaffneten Aktionen teilnahmen, Gespräche anzubieten. Ulrich Brandenburg wandte sich gegen die Ausführungen Karaganows, wonach die EU ignoriere, dass Russland die Probleme in Berg-Karabach, Transnistrien und anderen Regionen „gelöst“ habe. Es stelle sich vielmehr die Frage, welche Konflikte wirklich gelöst wurden. In Abchasien hätten 90 Prozent der Bevölkerung russische Pässe, und in Transnistrien habe die Präsenz russischer Streitkräfte einen postsowjetischen Jurrasic Park entstehen lassen.
 
Dietrich Sperling konstatierte, dass der Terrorismus-Vorwurf zum politischen Spiel gehöre. In den Randgebieten der ehemaligen Sowjetunion diene er als Begleitmusik für den Verdrängungswettbewerb, den sich die USA und Russland dort lieferten. Er verwies dabei auf die Kontinuität in der russischen Geschichte gegenüber den Völkern des Kaukasus. Der zaristische Umgang mit Tschetschenen, Tscherkessen und Abchasen zeige, dass man die Selbstbestimmung mit Füßen getreten habe. Und auch in der Sowjetunion gab es unter Stalin und Berija noch Umsiedlungsprogramme.
 
Heinz Timmermann kritisierte ähnlich wie Brandenburg, dass Russland sich weigere, EU-Institutionen – wie zum Beispiel die ESVP – bei der Lösung der eingefrorenen Konflikte zu beteiligen, etwa in Transnistrien. Die ESVP habe nicht nur eine militärische, sondern auch eine zivile Komponente, die bei Fragen des Wiederaufbaus und der Vertrauensbildung zum Zuge kommen könnte. Darauf antwortete Scharping, dass dies die zivilen Kräfte (die bislang noch nicht wirklich bestehen) zerstören würde, da ein Scheitern aufgrund unzureichend ausgebildeter Fähigkeiten vorauszusehen sei. Und Karaganow merkte an, dass die EU schon in Bosnien-Herzegowina keinen ausreichenden politischen Willen gezeigt und keinen guten record habe. Wenn es sich wirklich um Partnerschaft handele, sei eine Kooperation sinnvoll. Jetzt bestehe der Verdacht, dass Europa vor allem seine Fähigkeit testen wolle, was man mit Skepsis betrachten müsse.
 
Zum Abschluss der Tagung stellte Matthes Buhbe fest, dass die Fragezeichen, mit denen die Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen versehen wurden, nicht gerechtfertigt seien. Die Beziehungen befänden sich nicht am Scheideweg, eine Alternative zwischen Kooperation und Konfrontation existiere ebenso wenig wie zwischen Interessen und Werten. Wjatscheslaw Nikonow  pflichtete dem im Prinzip bei, monierte allerdings, dass es bei den Diskussionen insoweit eine Asymmetrie gegeben habe, als sich die kritische Aufmerksamkeit ganz überwiegend auf Russland konzentriert habe. Er schlug vor, beim 9. Schlangenbader Gespräch im kommenden Jahr auch bei der Auswahl der Themen den Akzent stärker auf Deutschland und die westliche Seite zu legen.

 

Protokoll:        Kerstin Zimmer
                         Wiktoria Borysowa